David Bowie: Meister der Verwandlung und Ikone der Popkultur
Der Chamäleon-Effekt – Mehr als nur ein Augenblick
Ein greller Scheinwerfer erfasst eine Bühne. Ein Mikrofonständer steht bereit. Die Luft knistert vor Erwartung. Diese Szenerie könnte unzählige Momente in der Karriere von David Bowie einleiten, einem Künstler, dessen Essenz die ständige Transformation war. Doch jener Abend des 3. Juli 1973 im Hammersmith Odeon, London, brannte sich ins kollektive Gedächtnis ein. Mit funkelndem Outfit betritt Bowie als sein Alter Ego Ziggy Stardust die Bühne und verkündet mit einem Hauch von Dramatik: „This is not only the last show of the tour, but it’s the last show that we’ll ever do.“ Die Spiders from Mars legen langsam ihre Instrumente nieder. Die Zeit scheint stillzustehen. Es ist der inszenierte Tod einer Kunstfigur, ein Schockmoment für die Fans, aber für Bowie nur ein weiterer Wendepunkt. Dieser Abschied von Ziggy Stardust markierte nicht das Ende, sondern vielmehr die Blaupause für eine Karriere, die von radikaler Neuerfindung, künstlerischer Risikobereitschaft und genreübergreifender Brillanz geprägt war – der stetige Wandel als Konstante einer Legende.
Frühes Leben und prägende Einflüsse
Geboren als David Robert Jones am 8. Januar 1947 in Brixton, London, wuchs er in einer Nachkriegszeit des Umbruchs auf. Seine Mutter, Margaret Mary „Peggy“ Burns, irischer Abstammung, arbeitete als Kellnerin und Kinoplatzanweiserin, sein Vater, Haywood Stenton „John“ Jones, war für das Kinderhilfswerk Barnardo’s tätig. Die Familie zog bald nach Bromley, einem Vorort Londons, wo Davids Interesse an Musik und Kunst früh geweckt wurde – von amerikanischem Rock ’n‘ Roll wie Little Richard bis hin zu Jazz.
Ein Schlüsselfaktor war sein zehn Jahre älterer Halbbruder Terry Burns. Terry, der später an Schizophrenie erkrankte und 1985 durch Suizid starb, führte den jungen David in die Welten des modernen Jazz (John Coltrane, Charles Mingus), der Beat-Literatur (Jack Kerouac) und des Buddhismus ein. Die Auseinandersetzung mit Terrys Krankheit und den damit verbundenen existenziellen Fragen prägte Bowies Sensibilität für Themen wie Entfremdung, psychische Zerrissenheit und die Suche nach Identität, die sein Werk durchziehen sollten. Eine weitere physische Besonderheit – seine permanent erweiterte linke Pupille (Anisokorie), Resultat einer Schulhofschlägerei um ein Mädchen im Jahr 1962 – trug zu seinem unverwechselbaren, fast außerirdisch wirkenden Blick bei.
Künstlerische Ausbildung und frühe Mentoren
An der Bromley Technical High School förderte sein Kunstlehrer Owen Frampton (Vater von Peter Frampton) sein künstlerisches Talent. Entscheidend für seine Bühnenpräsenz wurde jedoch die Begegnung mit Lindsay Kemp, einem Tänzer, Schauspieler und Mimedozenten. Ab 1967 studierte Bowie bei Kemp Tanz, Pantomime und Commedia dell’arte. Diese Ausbildung legte den Grundstein für die theatralischen Inszenierungen seiner späteren Alter Egos und seine Fähigkeit, Charaktere durch Körperlichkeit und Geste zum Leben zu erwecken.
Musikalische Anfänge: Von den Konrads zu Major Tom
Mit 15 Jahren gründete David Jones seine erste Band, die Saxofon-lastigen Konrads. Es folgten Engagements in verschiedenen Mod- und R&B-Gruppen wie The King Bees, The Manish Boys (mit denen er kurzzeitig Jimmy Page als Session-Gitarristen hatte) und The Lower Third. Um Verwechslungen mit Davy Jones von The Monkees zu vermeiden, nahm er 1966 offiziell den Künstlernamen David Bowie an, inspiriert vom amerikanischen Pionier Jim Bowie und dessen berühmtem Messer. Sein selbstbetiteltes Debütalbum von 1967, eine Mischung aus Pop, Psychedelia und Music Hall, fand kaum Beachtung. Der Durchbruch gelang erst 1969 mit der Single „Space Oddity“. Perfekt getimt zur Apollo-11-Mondlandung, erzählte der Song die melancholische Geschichte des Astronauten Major Tom, der im All verloren geht – eine Metapher für Isolation, die Bowie immer wieder aufgreifen sollte.
Glam Rock, Ziggy Stardust und die Spiders from Mars
Nach einer Phase der Orientierungslosigkeit und Experimente (das härtere Rockalbum The Man Who Sold the World (1970), das songorientierte Hunky Dory (1971) mit Klassikern wie „Changes“ und „Life on Mars?“) schuf Bowie 1972 sein wohl ikonischstes Werk: The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars. Mit diesem Konzeptalbum erschuf er die androgyne, außerirdische Rockstar-Messias-Figur Ziggy Stardust. Unterstützt von seiner Begleitband The Spiders from Mars – Mick Ronson (Gitarre), Trevor Bolder (Bass) und Mick Woodmansey (Schlagzeug), später ergänzt durch Mike Garson (Klavier) – definierte Bowie den Glam Rock neu. Provokante Texte, futuristische Kostüme (oft von Kansai Yamamoto), Science-Fiction-Ästhetik und eine offene Spielerei mit sexueller Identität verschmolzen zu einem Gesamtkunstwerk, das eine ganze Generation inspirierte und die Grenzen dessen, was im Pop möglich war, verschob. Nachfolgende Alben wie Aladdin Sane (1973) und das Coveralbum Pin Ups (1973) führten den Stil fort, bevor Bowie die Figur Ziggy und die Spiders beim berühmten Konzert im Hammersmith Odeon überraschend „in Rente schickte“.
Stilistische Metamorphosen: Von Plastic Soul über Berlin nach Pop-Olympia
Bowies Karriere war ein fortwährender stilistischer Wandel:
- Diamond Dogs & Plastic Soul (1974-1976): Nach Ziggy wandte sich Bowie mit Diamond Dogs (1974) einer düsteren, von George Orwells „1984“ inspirierten Vision zu. Danach zog er in die USA und erfand sich erneut neu. Young Americans (1975) war eine Hommage an den Soul und Funk Philadelphias, ein Stil, den Bowie selbst als „Plastic Soul“ bezeichnete. Das Album enthielt seinen ersten Nr.-1-Hit in den USA, „Fame“, geschrieben zusammen mit John Lennon und Carlos Alomar. Diese Phase gipfelte in Station to Station (1976), einem Übergangswerk, das Soul-Elemente mit europäischer Avantgarde verband und die enigmatische Figur des „Thin White Duke“ einführte.
Die Berliner Jahre (1976-1979): Um der zerstörerischen Kokainabhängigkeit und dem Starrummel in Los Angeles zu entkommen, zog Bowie 1976 nach West-Berlin. In Zusammenarbeit mit Brian Eno und Produzent Tony Visconti entstanden hier drei bahnbrechende Alben, die oft als „Berlin-Trilogie“ bezeichnet werden: Low (1977), “Heroes“ (1977) und Lodger (1979). Geprägt von deutschen Krautrock-Bands wie Kraftwerk und Neu!, experimenteller Elektronik, Ambient-Klanglandschaften und fragmentierten Texten, waren diese Alben künstlerisch wegweisend, wenn auch kommerziell weniger erfolgreich als frühere Werke. Der Titelsong von “Heroes“, aufgenommen im Schatten der Berliner Mauer, wurde zu einer seiner bekanntesten Hymnen. - Der globale Popstar (1980-1987): Mit Scary Monsters (and Super Creeps) (1980) kehrte Bowie zu einer zugänglicheren, aber immer noch innovativen Form des Rock zurück und landete mit „Ashes to Ashes“ (in dem er die Figur Major Tom wieder aufgriff) einen Welthit. Den Höhepunkt seines kommerziellen Erfolgs erreichte er 1983 mit dem Album Let’s Dance, produziert von Nile Rodgers (Chic). Mit Hits wie „Let’s Dance“, „China Girl“ (einer Neuaufnahme eines Songs, den er mit Iggy Pop geschrieben hatte) und „Modern Love“ wurde Bowie zum globalen Stadion-Act. Die folgenden Alben Tonight (1984) und Never Let Me Down (1987) konnten künstlerisch jedoch nicht an diesen Erfolg anknüpfen, eine Phase, die Bowie später selbst kritisch sah.
Tin Machine: Radikaler Neuanfang
Unzufrieden mit dem Status als Pop-Superstar und auf der Suche nach künstlerischer Erneuerung gründete Bowie 1988 überraschend die Rockband Tin Machine zusammen mit Reeves Gabrels (Gitarre) und den Brüdern Tony Fox Sales (Bass) und Hunt Sales (Schlagzeug). Die Band spielte einen rauen, lauten und kompromisslosen Gitarrenrock, der bewusst mit den Erwartungen an den „Popstar Bowie“ brach. Sie veröffentlichten zwei Studioalben (Tin Machine 1989, Tin Machine II 1991) und ein Live-Album. Obwohl kommerziell nur mäßig erfolgreich und von Kritikern gemischt aufgenommen, war Tin Machine für Bowie ein wichtiger Schritt, um seine kreative Autonomie zurückzugewinnen, bevor er sich 1992 wieder seiner Solokarriere zuwandte.
Schauspielkarriere: Performance jenseits der Bühne
Bowies theatralisches Talent beschränkte sich nicht auf die Musikbühne. Bereits 1967 spielte er in einem Kurzfilm mit. Sein Leinwanddebüt gab er 1976 in der Hauptrolle des außerirdischen Thomas Jerome Newton in Nicolas Roegs Kultfilm Der Mann, der vom Himmel fiel. Es folgten markante Rollen wie der preußische Offizier in Schöner Gigolo, armer Gigolo (1978, mit Marlene Dietrich), der Kriegsgefangene Major Celliers in Nagisa Ōshimas Furyo – Merry Christmas, Mr. Lawrence (1983), der Koboldkönig Jareth in Jim Hensons Fantasyfilm Labyrinth (1986), Pontius Pilatus in Martin Scorseses Die letzte Versuchung Christi (1988) und Andy Warhol in Basquiat (1996). Seine vielleicht subtilste und von Kritikern gelobte Rolle spielte er als Nikola Tesla in Christopher Nolans The Prestige (2006).
Legendäre Live-Auftritte
Bowies Konzerte waren oft spektakuläre Inszenierungen:
- Ziggy Stardust Tour (1972-1973): Höhepunkt im Hammersmith Odeon am 3. Juli 1973 mit dem überraschenden Bühnenabschied von Ziggy.
- Diamond Dogs Tour (1974): Eine aufwändige Theatershow mit komplexen Bühnenbildern.
- Serious Moonlight Tour (1983): Seine kommerziell erfolgreichste Tournee, die seinen Status als globaler Superstar zementierte.
- Live Aid (Wembley, 13. Juli 1985): Ein ikonischer Auftritt, bei dem er Hits wie „Rebel Rebel“, „Modern Love“ und eine ergreifende Version von „Heroes“ spielte.
- Freddie Mercury Tribute Concert (Wembley, 20. April 1992): Bewegende Momente, darunter das Duett „Under Pressure“ mit Annie Lennox und ein spontanes Vaterunser in Gedenken an Freddie Mercury und andere AIDS-Opfer.
- Glastonbury Festival (25. Juni 2000): Ein triumphaler Headliner-Auftritt, der oft als eines der besten Glastonbury-Konzerte aller Zeiten bezeichnet wird. Bowie selbst nannte das Publikum das beste, vor dem er je gespielt habe.
- A Reality Tour (2003-2004): Seine letzte große Tournee, die nach einem Herzanfall während eines Konzerts in Deutschland im Juni 2004 abrupt endete.
Kollaborationen und Einfluss
David Bowie war nicht nur Solokünstler, sondern auch ein begehrter Kollaborateur und Produzent:
- Queen: Die spontane Zusammenarbeit im Studio in Montreux führte 1981 zum Welthit „Under Pressure“.
- Iggy Pop: Bowie produzierte dessen wegweisende Alben The Idiot und Lust for Life (beide 1977) und schrieb Hits wie „China Girl“ und „Tonight“ mit ihm. Er unterstützte seinen Freund maßgeblich beim Comeback.
- Lou Reed: Bowie produzierte Reeds Durchbruchsalbum Transformer (1972) mit dem Hit „Walk on the Wild Side“.
- Brian Eno: Schlüsselfigur der experimentellen Berlin-Trilogie.
- Nile Rodgers: Produzent des Megasellers Let’s Dance.
- Mick Ronson: Sein kongenialer Gitarrist in der Ziggy-Stardust-Ära.
- Carlos Alomar, Gail Ann Dorsey, Earl Slick, Mike Garson: Langjährige Bandmitglieder und musikalische Weggefährten, die seinen Sound über verschiedene Phasen hinweg prägten.
Persönliches Leben, letzte Jahre und Vermächtnis
Von 1970 bis 1980 war Bowie mit dem amerikanischen Model Angela Barnett verheiratet. Aus dieser Ehe stammt Sohn Duncan Jones (geb. 1971), der heute als Filmregisseur (Moon, Source Code) erfolgreich ist. Die Ehe war turbulent und endete in einer Scheidung. 1992 heiratete Bowie das somalische Supermodel Iman Abdulmajid. Diese Ehe galt als sehr stabil und glücklich und hielt bis zu seinem Tod. 1999 wurde ihre gemeinsame Tochter Alexandria „Lexi“ Zahra Jones geboren.
Nach seinem Herzanfall 2004 zog sich Bowie weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück und konzentrierte sich auf sein Familienleben in New York. Überraschend kehrte er 2013 mit dem Album The Next Day zurück. Sein letztes Album, Blackstar, erschien an seinem 69. Geburtstag, dem 8. Januar 2016. Nur zwei Tage später, am 10. Januar 2016, verstarb David Bowie an Leberkrebs, eine Erkrankung, die er 18 Monate lang geheim gehalten hatte. Blackstar wird heute als sein bewusst gestaltetes musikalisches Requiem und letztes künstlerisches Statement betrachtet.
Das Album Toy, das bereits um 2001 aufgenommen wurde und Neuinterpretationen früherer Songs enthielt, wurde von seiner Plattenfirma damals abgelehnt und erst 2021 posthum offiziell veröffentlicht.
David Bowie war weit mehr als nur ein Musiker. Er war ein Gesamtkunstwerk, ein Visionär, der die Grenzen zwischen Musik, Mode, Theater und visueller Kunst auflöste. Er spielte mit Identitäten und Geschlechterrollen, beeinflusste unzählige Künstler verschiedenster Genres und prägte die Popkultur nachhaltig. Seine Fähigkeit zur Neuerfindung, sein künstlerischer Mut und sein einzigartiges Werk sichern ihm einen unvergänglichen Platz im Pantheon der modernen Kultur. Seine Asche wurde, seinem Wunsch und buddhistischen Glauben entsprechend, auf Bali verstreut.
Komplette Diskografie (Studioalben)
- David Bowie (1967)
- David Bowie [auch bekannt als Space Oddity] (1969)
- The Man Who Sold the World (1970)
- Hunky Dory (1971)
- The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars (1972)
- Aladdin Sane (1973)
- Pin Ups (1973)
- Diamond Dogs (1974)
- Young Americans (1975)
- Station to Station (1976)
- Low (1977)
- “Heroes“ (1977)
- Lodger (1979)
- Scary Monsters (and Super Creeps) (1980)
- Let’s Dance (1983)
- Tonight (1984)
- Never Let Me Down (1987)
- Black Tie White Noise (1993)
- The Buddha of Suburbia (1993) [Soundtrack-Album, oft als Studioalbum gezählt]
- Outside (1995)
- Earthling (1997)
- Hours… (1999)
- Heathen (2002)
- Reality (2003)
- The Next Day (2013)
- Blackstar (2016)
- Toy (aufgenommen ca. 2001, veröffentlicht 2021)
Zusätzlich zu diesen Studioalben umfasst Bowies Werk zahlreiche Live-Alben, Soundtracks (wie Labyrinth), Kompilationen, EPs und Singles, die seinen enormen künstlerischen Output dokumentieren.
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