CAN | Die Pioniere des Krautrock
CAN | Die Pioniere des Krautrock

CAN | Die Pioniere des Krautrock

CAN | Die Pioniere des Krautrock: Eine Interaktive Biografie

Die deutsche Band CAN, 1968 in Köln gegründet, war weit mehr als nur eine Musikgruppe; sie war eine selbsternannte „anarchistische Gemeinschaft“, deren Einfluss die Musiklandschaft nachhaltig prägen sollte. Ihre Methode, Musik durch kollektive Improvisation und akribische Nachbearbeitung im Studio zu erschaffen, war revolutionär und zog Parallelen zur Arbeit von Avantgarde-Komponisten wie Karlheinz Stockhausen, bei dem zwei der Gründungsmitglieder studiert hatten. Diese einzigartige Fusion aus akademischer Disziplin und radikaler kreativer Freiheit ermöglichte es CAN, die Grenzen des Rock zu sprengen und ein völlig neues Genre mitzugestalten: den Krautrock.

Die Geburt einer Legende: Gründung und frühe Visionen

Die Wurzeln von CAN liegen in der Begegnung von Irmin Schmidt (Keyboard), Holger Czukay (Bass), Michael Karoli (Gitarre) und Jaki Liebezeit (Schlagzeug). Inspiriert von der New Yorker Avantgarde-Szene um Andy Warhol und The Velvet Underground, wollte Schmidt die starren Strukturen der klassischen und neuen Musik hinter sich lassen. Jedes Mitglied brachte eine eigene Welt mit: Schmidt die klassische Ausbildung, Karoli die Faszination für Roma-Musik, Liebezeit seine tiefen Wurzeln im Jazz und Czukay das theoretische Wissen aus seinen Studien bei Stockhausen. Ihr Proberaum und Studio, das „Inner Space Studio“ im Schloss Nörvenich, wurde zum Labor für ihre Klangexperimente. Mit dem amerikanischen Bildhauer Malcolm Mooney als erstem Sänger fand die Band ihre rhythmische Stoßrichtung. Czukay beschrieb ihre Anfänge treffend als die von „studierten Dilettanten“ – Experten in der Musiktheorie, aber Neulinge im Rock, die dessen Konventionen bewusst ignorierten, um etwas radikal Neues zu schaffen. Ihr Debütalbum Monster Movie (1969) war das erste Zeugnis dieses revolutionären Ansatzes.

Schicksalsschläge und Wandel: Mooneys Abschied

Der intensive und oft chaotische kreative Prozess forderte seinen Tribut. Malcolm Mooney litt zunehmend unter psychischen Problemen, die in einem Nervenzusammenbruch während eines Live-Auftritts gipfelten. Auf ärztlichen Rat hin verließ er die Band Ende 1969 und kehrte in die USA zurück. Dieser Verlust war ein tiefer Einschnitt, zwang die Band jedoch, sich neu zu orientieren und markierte das Ende ihrer ersten, rohen Phase.

Die prägenden Jahre: Die Ära Damo Suzuki

Der Zufall führte CAN zu ihrem nächsten Sänger. Holger Czukay und Jaki Liebezeit entdeckten den japanischen Straßenmusiker Damo Suzuki vor einem Münchner Café und luden ihn spontan ein, noch am selben Abend mit ihnen aufzutreten. Ohne jede Probe entfesselte sich eine unglaubliche kreative Chemie. Suzukis oft improvisierter, sprachübergreifender Gesang, den er selbst als „Sprache der Steinzeit“ bezeichnete, passte perfekt zu den hypnotischen, fließenden Klanglandschaften der Band. Die folgenden Jahre (1970–1973) waren die kreativste und einflussreichste Phase von CAN. In dieser Zeit entstanden Meilensteine wie:

  • Tago Mago (1971): Ein bahnbrechendes Doppelalbum, das mit seiner dunklen Atmosphäre, den komplexen Rhythmen und den avantgardistischen Tape-Edits als eines der wichtigsten Alben der Rockgeschichte gilt.
  • Ege Bamyasi (1972): Zugänglicher, aber nicht weniger experimentell, enthielt das Album mit „Vitamin C“ und „Spoon“ zwei ihrer bekanntesten Stücke. „Spoon“ wurde zur Titelmelodie des Durbridge-Krimis Das Messer und bescherte der Band einen überraschenden Charterfolg in Deutschland.
  • Future Days (1973): Ein Album, das sich dem Ambient zuwendet und als Vorreiter dieses Genres gilt. Es zeigte eine ruhigere, atmosphärischere Seite der Band.

Nach Future Days verließ Damo Suzuki die Band, um zu heiraten und ein Zeuge Jehovas zu werden. Sein Abschied markierte das Ende der klassischen CAN-Ära.

Spätere Jahre, Auflösung und Wiedervereinigungen

Nach Suzukis Weggang übernahmen Karoli und Schmidt den Gesang. Die Musik wurde elektronischer und atmosphärischer, bevor sich die Band in späteren Jahren konventionelleren Stilen wie Disco und Reggae zuwandte. Die Single „I Want More“ wurde 1976 ein internationaler Hit. Mit dem Bassisten Rosko Gee und dem Perkussionisten Rebop Kwaku Baah stießen neue Mitglieder hinzu, während Holger Czukays Rolle sich von der des Bassisten hin zum Experimentator mit Kurzwellenradios und Tonbändern verlagerte. Ende 1977 verließ er die Band. Nach dem Album Can (1979) löste sich die Gruppe auf. Es folgten sporadische Wiedervereinigungen, darunter für das Album Rite Time (1989) mit Malcolm Mooney. Tragischerweise sind die meisten Gründungsmitglieder inzwischen verstorben: Michael Karoli (2001), Jaki Liebezeit (2017), Holger Czukay (2017) und Damo Suzuki (2024). Ihr musikalisches Erbe jedoch lebt ungebrochen weiter.

Das Herz von CAN war die einzigartige Synergie seiner Mitglieder. Jeder Musiker brachte eine unverwechselbare Stimme und einen außergewöhnlichen Hintergrund mit, die in der kollektiven Improvisation zu einem Ganzen verschmolzen. Klicken Sie auf die Namen, um mehr über die individuellen Lebenswege und Beiträge der Schlüsselfiguren zu erfahren.

Irmin Schmidt (Keyboard)

Geboren: 29. Mai 1937 in Berlin
Irmin Schmidt war der musikalische Visionär und Gründer von CAN. Als klassisch ausgebildeter Pianist und Dirigent studierte er bei Koryphäen wie Karlheinz Stockhausen und György Ligeti. Eine Reise nach New York in den 1960ern, wo er mit der Minimal Music von Steve Reich und Terry Riley sowie der Kunst von Andy Warhol in Berührung kam, wurde zum Wendepunkt. Er beschloss, die Welten der Avantgarde und des Rock zu vereinen. Bei CAN war er der Architekt der harmonischen Strukturen und Klangflächen. Nach CAN wurde er ein gefeierter Komponist für Film und Fernsehen und schrieb sogar eine Oper, Gormenghast. Er heiratete 1963 Hildegard Reittenberger, die später CANs Managerin wurde und das Label Spoon Records gründete, um das Erbe der Band zu verwalten. Sie haben eine gemeinsame Tochter.

Die Diskografie von CAN ist ein beeindruckendes Zeugnis ihrer Schaffenskraft und Entwicklung. Von bahnbrechenden Studioalben über Soundtracks bis hin zu posthum veröffentlichten Live-Aufnahmen bietet ihr Katalog einen tiefen Einblick in ein einzigartiges musikalisches Universum. Die folgende Liste ist in Kategorien unterteilt, um die Navigation zu erleichtern.

  • Monster Movie (1969)
  • Tago Mago (1971)
  • Ege Bamyasi (1972)
  • Future Days (1973)
  • Soon Over Babaluma (1974)
  • Landed (1975)
  • Flow Motion (1976)
  • Saw Delight (1977)
  • Out of Reach (1978)
  • Can (1979)
  • Rite Time (1989)
  • Soundtracks (1970)
  • Limited Edition (1974)
  • Unlimited Edition (1976)
  • Cannibalism (1978)
  • Delay 1968 (1981)
  • The Peel Sessions (1995)
  • Sacrilege (Remix Album) (1997)
  • The Lost Tapes (2012)
  • The Singles (2017)
  • Can Live Music (Live 1971–1977) (1999)
  • Live in Stuttgart 1975 (2021)
  • Live in Brighton 1975 (2021)
  • Live in Cuxhaven 1976 (2022)
  • Live in Paris 1973 (2024)
  • Live in Aston 1977 (2024)
  • Live in Keele 1977 (2024)

Musikalischer Stil: Die Anatomie des CAN-Sounds

Der Sound von CAN war ein Amalgam aus scheinbar widersprüchlichen Elementen. Ihr Markenzeichen war der hypnotische „Motorik“-Beat von Jaki Liebezeit – ein unerbittlich treibender 4/4-Takt, der eine tranceartige Wirkung erzeugte. Darüber legten sich die komplexen, oft minimalistischen Basslinien von Holger Czukay, die fließenden, mal sanften, mal aggressiven Gitarrenläufe von Michael Karoli und die atmosphärischen Keyboard-Teppiche von Irmin Schmidt. Die Musik war stark von Weltmusik, insbesondere afrikanischen und balinesischen Rhythmen, beeinflusst. Alles basierte auf dem Prinzip der „Instant Composition“ (Spontankomposition). Die Band spielte stundenlange Jams, die Czukay anschließend im Studio zu fertigen Stücken destillierte. Dieses Zusammenspiel aus freier Improvisation und präziser Postproduktion definierte ihren revolutionären Arbeitsprozess.

Legendäre Live-Auftritte

CAN-Konzerte waren unvorhersehbare Ereignisse. Die Band spielte nie mit einer Setlist und reproduzierte ihre Studioaufnahmen nicht eins zu eins auf der Bühne. Stattdessen waren ihre Auftritte eine Fortsetzung ihrer Studioarbeit: reine Improvisation. Ein Konzert konnte aus einem einzigen, stundenlangen Stück bestehen, das das Publikum in einen tranceartigen Zustand versetzte. Besonders die frühen Auftritte mit Malcolm Mooney oder Damo Suzuki waren oft konfrontativ und schockierten das unvorbereitete Publikum. Ihr längster bekannter Auftritt in Berlin dauerte über sechs Stunden. Diese Kompromisslosigkeit machte ihre Konzerte zu legendären, einzigartigen Erlebnissen, die nie wiederholt werden konnten.

Vermächtnis und Einfluss

Der Einfluss von CAN auf die nachfolgenden Musikergenerationen ist kaum zu überschätzen. Sie gelten als eine der wichtigsten Inspirationsquellen für Post-Punk, New Wave und Alternative Rock. Bands und Künstler wie Public Image Ltd. (John Lydon), The Fall (Mark E. Smith), Joy Division, Siouxsie and the Banshees, Radiohead, Primal Scream, The Jesus and Mary Chain, Sonic Youth und LCD Soundsystem haben sich alle direkt auf CAN berufen oder deren Einfluss in ihrer Musik erkennen lassen. Radiohead übernahmen für ihre Alben Kid A und Amnesiac explizit die Arbeitsweise des Jammens und nachträglichen Editierens. Der „Motorik“-Beat findet sich in unzähligen Songs wieder. Kanye West samplete „Sing Swan Song“ für seinen Track „Drunk and Hot Girls“. CAN waren nicht nur Pioniere des Krautrock, sondern auch der Ambient-Musik und des experimentellen Rock. Ihr Vermächtnis liegt in ihrem Mut, alle musikalischen Regeln zu brechen und eine Klangwelt zu erschaffen, die bis heute modern, relevant und absolut einzigartig klingt.

© 2024 CAN Interaktive Biografie. Alle Rechte vorbehalten.

Im Artikel verwendete Fotos stehen unter Lizenz von:
Heinrich Klaffs, CC BY-SA 2.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0>, via Wikimedia Commons

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