Die Provokation beginnt
Die Geburt einer Band und ihr provokanter Name
Die Formation der Band Birth Control im Jahr 1966 in Berlin markierte den Beginn einer bemerkenswerten musikalischen Reise, die sich über Jahrzehnte erstrecken sollte. Aus den Vorgängerbands The Earls und The Gents hervorgegangen, legte diese Gruppe den Grundstein für eine der langlebigsten Karrieren in der deutschen Rockszene. Schon der Name „Birth Control“ war eine bewusste und provokante Wahl, die eine klare Stellungnahme gegen die Anti-Verhütungspolitik von Papst Paul VI. darstellte, insbesondere im Kontext seiner Enzyklika „Humanae Vitae“. Diese rebellische Haltung spiegelte sich auch in der Gestaltung ihrer ersten Albumcover wider, wie der Verpackung des Debütalbums in einer Antibabypillen-Schachtel.
Die Wahl des Bandnamens war weit mehr als eine bloße Marketingstrategie; sie war ein tief verwurzeltes Statement, das den rebellischen Geist und den Zeitgeist der späten 1960er Jahre in Deutschland präzise einfing. In einer Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs positionierte sich die Band mit diesem Namen und ihrer visuellen Ästhetik als Teil der Gegenkultur. Diese provokante Haltung trug maßgeblich zu ihrer anfänglichen Bekanntheit und Anziehungskraft innerhalb der deutschen Underground-Szene bei.
Gründung und die ersten Jahre in Berlin (1966-1968)
Die ursprüngliche Besetzung von Birth Control war umfangreich und umfasste Bernd Koschmidder am Bass, Reinhold Sobotta an der Orgel, Rolf Gurra am Saxophon und Gesang, Fritz Gröger als Sänger, Reiner Borchert und Klaus Orso an den Gitarren sowie Hugo Egon Balder am Schlagzeug. In ihren Anfangsjahren spielte die Band vorwiegend in Berliner Clubs und erlangte dort schnell regionale Bekanntheit. Diese Phase war geprägt von intensiven Auftritten, die den Grundstein für ihre spätere Live-Reputation legten.
Die große Anzahl an Gründungsmitgliedern und die schnelle Fluktuation in den ersten Jahren, bei der alle sieben Originalmitglieder innerhalb von fünf Jahren die Band verließen, weisen auf eine intensive Phase der musikalischen und personellen Findung hin. Es war eine Zeit des Experimentierens und möglicherweise auch innerer Konflikte, die letztlich zur Etablierung eines stabileren Kerns um Bernd Noske und Bruno Frenzel führte.
Die ursprüngliche Besetzung und erste musikalische Schritte
In ihren frühen Jahren konzentrierte sich Birth Control auf Jazz-Rock-Kompositionen, die oft instrumental geprägt waren. Diese musikalische Ausrichtung zeigte eine frühe Ambition, komplexe und improvisatorische Elemente in ihren Sound zu integrieren. Ein bemerkenswertes frühes Engagement führte die Band für drei Monate nach Beirut, wo sie im ausverkauften Nachtclub „Les Caves du Roy“ auftraten. Diese internationale Erfahrung in den Anfangstagen war ungewöhnlich für eine deutsche Band und trug dazu bei, ihre professionellen Ambitionen zu schärfen.
Musikalische Entwicklung & frühe Erfolge
Der Wandel im Sound: Von Jazz-Rock zu Heavy Prog und Krautrock
Die musikalische Ausrichtung von Birth Control durchlief eine bemerkenswerte Entwicklung. Sie starteten mit Jazz-Rock-Fusion, bewegten sich über psychedelischen Krautrock hin zu schwerem Progressive Rock, wobei sie stets Elemente aus Blues und Jazz integrierten. Diese Fähigkeit, verschiedene Genres zu verschmelzen, verlieh ihnen einen unverwechselbaren Klang, der sie von vielen ihrer Zeitgenossen abhob.
Die ersten Alben: „Birth Control“ (1970) und „Operation“ (1971)
Das Debütalbum „Birth Control“ (1970) präsentierte bereits einen reifen Sound mit einem ausgeprägten Progressive-Akzent. Nur ein Jahr später folgte „Operation“ (1971), das eine deutliche klangliche Verbesserung und eine Verlagerung hin zu einem Heavy-Rock-Sound zeigte. Veröffentlicht auf dem legendären Ohr-Label, avancierte „Operation“ zu einem großen Erfolg in der deutschen Underground-Szene.
„Hoodoo Man“ (1972) und der Aufstieg zum Kultstatus: „Gamma Ray“
Das Jahr 1972 brachte mit „Hoodoo Man“ einen Meilenstein des deutschen Rocks hervor. Der darauf enthaltene Song „Gamma Ray“ entwickelte sich zum Kultsong der Krautrock-Ära, verkaufte sich über 300.000 Mal und erlangte sogar in der Techno-Szene Popularität. Die deutsche Presse kürte Birth Control zur „explosivsten deutschen Hardrock Band“, während die britische Presse sie als „Kopisten ersten Ranges“ bezeichnete – ein Zeichen für die kulturelle Kluft in der damaligen Rock-Rezeption.
Einflüsse und Live-Präsenz
Birth Control zog Inspiration von Krautrock-Kollegen wie Grobschnitt und Guru Guru, aber auch von internationalen Größen wie The Doors, Uriah Heep und Deep Purple. Ihr wahres Potenzial entfaltete die Band jedoch auf der Bühne. Ihre energiegeladenen Live-Auftritte waren legendär. Bereits 1970 traten sie beim „Super Concert ’70“ neben Jimi Hendrix und Ten Years After auf. Das Doppel-Live-Album „Live“ von 1974 ist ein wichtiges Zeugnis dieser Bühnenenergie, auch wenn Kritiker die langen, improvisierten Soli teils bemängelten.
Schicksalsschläge und Kontroversen
Die anhaltende Kontroverse um den Bandnamen und die Albumcover
Der Name „Birth Control“ und die provokanten Albumcover waren ein bewusster Akt des Protests. Das Debütalbum war in einer Antibabypillen-Schachtel verpackt, und das Cover von „Operation“ zeigte den Papst mit einem babyfressenden Monster. Solche Darstellungen führten zu Kontroversen, Verkaufsverweigerungen durch Plattenläden und sogar zu einem Streik britischer Packerinnen. Paradoxerweise erwies sich diese Empörung als „beste Publicity“ und festigte das rebellische Image der Band.
Frühe Rückschläge und tragische Unfälle
Die Bandgeschichte wurde früh von Schicksalsschlägen geprägt. Ein schwerer Autounfall 1968 führte zum Ausscheiden von Gründungsmitglied Hugo Egon Balder. Dieser Vorfall ebnete jedoch den Weg für Bernd Noske, der zur Seele der Band werden sollte.
Der wohl tragischste Moment ereignete sich 1975, als Gitarrist Bruno Frenzel während eines Auftritts in Montreux einen schweren Stromschlag erlitt. Er erholte sich nie vollständig von den inneren Verletzungen und verstarb 1983 an den Spätfolgen. Sein Tod war eine direkte Spätfolge dieses Unfalls und führte zur vorübergehenden Auflösung der Band.
Krankheiten, Todesfälle und ein mysteriöses Verschwinden
Die Liste der Tragödien setzte sich fort. Der hochtalentierte Bassist Horst Stachelhaus verstarb 1999 an einer seltenen Form der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. Bandleader Bernd „Nossi“ Noske verstarb 2014, was erneut eine Zäsur für die Band bedeutete. Auch Keyboarder Wolfgang „Wölle“ Neuser verstarb 2018 nach schwerer Krankheit.
Eine einzigartige und fast romanhafte Episode ist das Verschwinden von Gründungsmitglied Reiner Borchert. Er verliebte sich während der Libanon-Tournee 1969, blieb in Beirut und gilt seitdem als verschollen. Diese Häufung von Schicksalsschlägen stellt die immense Resilienz und den unbedingten Überlebenswillen der Band eindrucksvoll unter Beweis.
Diskografie
Die Diskografie von Birth Control ist ein umfangreiches Zeugnis ihrer langen und produktiven Karriere. Sie umfasst eine beeindruckende Anzahl von Studioalben, Live-Aufnahmen und Kompilationen.
Studioalben
Jahr |
Titel |
Anmerkungen |
1970 | Birth Control | Debütalbum, provokantes Cover (Pillen-Schachtel). |
1971 | Operation | Großer Erfolg für das Ohr-Label. |
1972 | Hoodoo Man | Meilenstein mit dem Kultsong „Gamma Ray“. |
1973 | Rebirth | Progressive Heavy Rock. |
1975 | Plastic People | Kommerziell weniger erfolgreich. |
1976 | Backdoor Possibilities | Mainstream-Sound mit mehr Jazz-Elementen. |
1977 | Increase | Rückkehr zu den Hardrock-Wurzeln. |
1978 | Titanic | |
1980 | Count On Dracula | |
1981 | Deal Done At Night | |
1982 | Bäng! | |
1995 | Two Worlds | Reunion-Album. |
1996 | Jungle Life | |
1999 | Getting There | |
2003 | Alsatian | |
2016 | Here And Now | Posthum mit Bernd Noske. |
2022 | Open Up | |
Wichtige Live-Alben
Jahr |
Titel |
Anmerkungen |
1974 | Birth Control Live | Legendäres Doppelalbum mit langen Improvisationen. |
1979 | Live ’79 | |
2005 | 35th Anniversary – Live At Rockpalast | WDR Rockpalast-Aufzeichnung. |