



The Young Gods: Die lauten Götter der Schweiz
Wenn man an die Schweiz denkt, was fällt einem ein. Käse. Uhren. Neutralität. Vielleicht noch teure Schokolade. Aber Industrial Rock. Eine apokalyptische Klangwand, die Gitarren überflüssig macht und selbst David Bowie zum Staunen bringt. Nein, das passt nicht ins Bild der idyllischen Alpenrepublik. Und doch, genau dort, im beschaulichen Fribourg, wurde 1985 ein Monster erschaffen, das die Musikwelt neu programmieren sollte. Diese Band sind The Young Gods.
Dies ist nicht die Geschichte einer Band, die den einfachen Weg ging. Es ist die Geschichte von drei Männern, die beschlossen, dass Rockmusik keine Gitarren mehr braucht, sondern dass die Zukunft im Sampling liegt. Und sie hatten verdammt nochmal recht. Schnallen Sie sich an, wir tauchen ein in die laute, poetische und oft kopierte, aber nie erreichte Welt der Jungen Götter.
Der Urknall: Sampler statt Saiten
Die Gründung einer Idee Wir schreiben das Jahr 1985. In den Kellern von Fribourg und später Genf brodelt etwas. Ein junger Mann namens Franz Treichler, frisch vom Konservatorium für klassische Gitarre, hat eine Offenbarung. Er will Rockmusik machen, aber die ewig gleichen Riffs langweilen ihn. Inspiriert von der rohen Energie der amerikanischen Band Swans, speziell deren Stück „Young God“, beschließt er, alles anders zu machen.
Er tut sich mit Cesare Pizzi, einem Gleichgesinnten aus einer früheren Punkband, und dem Schlagzeuger Frank Bagnoud zusammen. Ihre Mission: die Regeln des Rock brechen. Ihr Werkzeug: der Sampler. Während andere Bands noch ihre Marshall-Türme aufbauten, saßen Pizzi und Treichler da und fütterten ihre Maschinen mit Sekundenbruchteilen von Geräuschen, verzerrten Orchester-Hits und industriellem Lärm. Die Gitarre wurde nicht gespielt, sie wurde zerlegt und als Waffe wieder zusammengesetzt.
Der Schweizer Produzenten-Maestro Der Sound war roh, aber er brauchte Disziplin. Hier kam Roli Mosimann ins Spiel. Ein Schweizer Produzent, der bereits mit Größen wie The The und später Faith No More arbeitete. Mosimann verstand die Vision der Band. Er half ihnen, das Chaos zu kanalisieren. Das Ergebnis war das Debütalbum „The Young Gods“ von 1987.
Die britische Musikpresse, allen voran der Melody Maker, verlor kollektiv den Verstand. Sie kürten dieses sperrige, laute Album aus der Schweiz zum „Album des Jahres“. Das war keine kleine Sache. The Young Gods waren über Nacht das Gesprächsthema der Avantgarde. Sie hatten den Industrial Rock nicht erfunden, aber sie hatten ihm eine neue, muskulöse und seltsam elegante Form gegeben.
Meilenstein: The Young Gods (1987)
Das Debüt, das alles veränderte. Vom Melody Maker zum Album des Jahres gekürt.
- Nous de la lune
- Jusqu’au bout
- A ciel ouvert
- Jimmy
- Percussionne
- Feu
- Did You Miss Me? (Gary Glitter Cover)
Die Etablierung: Rotes Wasser und deutsche Oper
L’eau rouge und die dunkle Romantik Nach dem Debüt-Schock legte die Band 1989 mit „L’eau rouge“ (Das rote Wasser) nach. Wieder von Mosimann produziert, war dieses Album tiefer, dunkler und noch atmosphärischer. Es war weniger ein direkter Angriff und mehr ein langsames Einsickern von Gift. Die Band bewies, dass ihr Sampler-Ansatz keine Eintagsfliege war, sondern eine echte musikalische Sprache, mit der man komplexe Emotionen ausdrücken konnte. Die europäischen Clubs lagen ihnen zu Füßen.
Der geniale Umweg: Play Kurt Weill Was macht eine Industrial-Band auf dem Höhepunkt ihres Schaffens. Sie covern Kurt Weill. Moment, was. Im Jahr 1991 veröffentlichten The Young Gods „Play Kurt Weill“. Sie nahmen die Stücke von Weill und Bertolt Brecht, etwa aus der „Dreigroschenoper“ oder „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, und jagten sie durch ihre Sampler.
Statt einer respektvollen Verbeugung war dies eine liebevolle Demontage. Der „Alabama Song“ klang plötzlich wieder so gefährlich und verrucht, wie er 1930 gemeint war. Dieses Album war ein künstlerisches Statement. Es zeigte, dass die Band nicht nur Lärm machen konnte, sondern auch tiefe Wurzeln in der europäischen Avantgarde-Tradition hatte. Es war auch der Zeitpunkt eines wichtigen Wechsels: Gründungsmitglied Cesare Pizzi verließ die Band, und Alain Monod, bekannt als Al Comet, trat an seine Stelle an den Keyboards und Samplern.
Der Durchbruch: T.V. Sky und die Verführung Amerikas
Wenn MTV anruft Mit dem neuen Mitglied Al Comet an Bord änderte sich der Sound. Für das 1992 erschienene Album „T.V. Sky“ drehten sie die Sampler etwas zurück und ließen, man höre und staune, mehr Rock-Strukturen zu. Das Album war immer noch unverkennbar The Young Gods, aber es war zugänglicher.
Die Single „Skinflowers“ wurde ein unerwarteter Hit. Das Video lief auf MTV in Dauerschleife. Plötzlich kannte man die Schweizer Avantgarde-Band auch in Amerika. Das Album öffnete ihnen Türen und brachte sie auf die Bühnen der größten Festivals.
Die göttlichen Fans: Bowie, U2 und Nine Inch Nails In dieser Zeit begannen die Großen der Branche Notiz zu nehmen. David Bowie, immer auf der Suche nach dem nächsten großen Ding, nannte The Young Gods als Inspiration. The Edge von U2 hörte „T.V. Sky“ während der Aufnahmen zu „Achtung Baby“ und war fasziniert von der Art, wie sie Klänge schichteten. Trent Reznor (Nine Inch Nails) und Al Jourgensen (Ministry) nannten die Band als prägenden Einfluss für den Industrial Metal, der die Neunziger dominieren sollte. The Young Gods waren die Band der Musiker, die Götter der Götter.
Der Hype wurde so groß, dass sie 1995 bei dem amerikanischen Major-Label Interscope unterschrieben und „Only Heaven“ veröffentlichten. Es war ein Versuch, den amerikanischen Markt zu erobern, ein Album voller schwebender, fast psychedelischer Schönheit, aber auch mit der gewohnten Düsternis. Doch der ganz große kommerzielle Knall in den USA blieb aus, vielleicht weil die Band zu kompromisslos blieb.
Meilenstein: T.V. Sky (1992)
Der Durchbruch. Mit „Skinflowers“ eroberten sie MTV und inspirierten Legenden wie David Bowie und U2. Ein zugänglicherer, aber dennoch unverkennbarer Sound.
Trackliste nicht öffentlich verfügbar.
Die Götterdämmerung und die Neufindung im 21. Jahrhundert
Personalwechsel und elektronische Experimente Ende der Neunzigerjahre gab es einen weiteren wichtigen Wechsel. Nach Frank Bagnoud und einem Zwischenspiel von Üse Hiestand übernahm Bernard Trontin das Schlagzeug. Trontin war kein reiner Rock-Schlagzeuger; er brachte Einflüsse aus dem Jazz und der elektronischen Musik mit, was den Sound der Band nachhaltig prägen sollte.
Mit dem Album „Second Nature“ im Jahr 2000 tauchte die Band tief in die aufkommende Techno- und Elektronik-Szene ein. Sie erfanden sich neu, wurden minimaler, kälter, aber immer noch intensiv. Sie veröffentlichten Soundtracks für künstliche Wolken („Music for Artificial Clouds“, 2004) und zeigten, dass sie sich nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen würden.
Das große Jubiläum mit Mike Patton Ein Höhepunkt dieser Ära war zweifellos das 20-jährige Jubiläum im Jahr 2005. Beim Montreux Jazz Festival spielten sie eine legendäre Show, begleitet vom Sinfonietta Orchestra Lausanne und einem ganz besonderen Gast: Mike Patton, der unberechenbare Sänger von Faith No More und ein bekennender Fan der Young Gods. Es war eine Feier ihrer eigenen Geschichte und ihrer Fähigkeit, Genregrenzen zu sprengen.
In den folgenden Jahren engagierten sie sich in diversen Projekten, von Neuinterpretationen der Woodstock-Konzerte bis hin zum „Amazonia Ambient Project“, bei dem Treichler Klänge aus dem Regenwald sammelte.
Die Architekten: Wer sind diese Götter eigentlich?
Eine Band ist mehr als ihre Alben. Sie ist die Summe ihrer Teile. Und bei The Young Gods sind diese Teile besonders faszinierend.
Franz Treichler (Gesang, Sampler, Gitarre) Geboren 1961 in Fribourg. Er ist der Kopf, die Stimme und der spirituelle Anker der Band. Treichler ist ein Intellektueller im Körper eines Rockstars. Er studierte klassische Gitarre an den Konservatorien in Fribourg und Lausanne (Res 4.2). Er war 1979 Mitbegründer der Punkband „Johnny Furgler & the Raclette Machine“ (zusammen mit Pizzi) und half, den legendären Konzertsaal Fri-Son zu eröffnen.
Neben der Band war er von 1997 bis 2003 musikalischer Leiter der zeitgenössischen Tanzkompanie von Gilles Jobin. 2014 wurde seine Arbeit mit dem Schweizer Grand Prix Musik gewürdigt. Treichler ist der Poet, der Philosoph, der die komplexen Klangwelten der Band mit seiner markanten, oft beschwörenden Stimme zusammenhält.
Cesare Pizzi (Sampler) Der Architekt des ursprünglichen Sounds. Pizzi war 1985 Gründungsmitglied und für die bahnbrechende Sampler-Arbeit auf den ersten Alben verantwortlich. Er verließ die Band 1989, kurz vor dem großen Durchbruch, um eigenen Wegen zu folgen. Doch die Geschichte hatte eine Wendung parat. Im Jahr 2012, nach dem Ausstieg von Al Comet, kehrte Pizzi zur Band zurück. Das Gründungsmitglied war wieder an Bord, und der Kreis schloss sich.
Bernard Trontin (Schlagzeug) Der Mann, der die Maschinen menschlich macht. Seit er Ende der Neunzigerjahre zur Band stieß, ist Trontin das rhythmische Fundament. Er ist kein reiner Taktgeber, sondern ein Klangmaler. Neben seiner Arbeit mit den Young Gods ist er tief in der Jazz-Szene verwurzelt, arbeitet mit Musikern wie Pierre Favre zusammen und veröffentlichte Projekte mit Simon Huw Jones von And Also the Trees.
Al Comet (Alain Monod) (Keyboards 1989-2012) Der Mann, der die längste Zeit der „klassischen“ Phase prägte. Geboren 1959, ebenfalls in Fribourg, ersetzte er Pizzi. Monod, der auch klassisches Klavier studierte, brachte seinen eigenen Stil ein und war maßgeblich an Alben wie „T.V. Sky“ und „Only Heaven“ beteiligt. Nebenbei verfolgte er eine Solokarriere als Al Comet und widmete sich intensiv dem Sitar-Spiel, das er in Indien studierte.
Die Rückkehr zur Form: Tangram, Riley und die neue Wut
Data Mirage Tangram (2019) Die Rückkehr von Cesare Pizzi im Jahr 2012 war mehr als nur ein nostalgischer Akt. Es war eine Wiedervereinigung der ursprünglichen kreativen Kraft. Die Band nahm sich Zeit. Die Songs für das 2019er Album „Data Mirage Tangram“ entstanden 2015 als offenes Laborprojekt während einer Residenz beim Cully Jazz Festival. Sie spielten live vor Publikum, experimentierten, schliffen die Stücke. Das resultierende Album war die Quintessenz ihrer gemeinsamen Erfahrung: dicht, hypnotisch und voller Energie.
Play Terry Riley In C (2022) Wieder ein künstlerischer Schlenker. Die Band nahm sich Terry Rileys „In C“ vor, ein Meilenstein der minimalistischen Musik aus dem Jahr 1964. Sie taten dies nicht allein, sondern in Kooperation mit dem Landwehr Blasorchester und dem Ensemble Batida. Sie verwandelten das minimalistische Stück in ein wogendes, kraftvolles Klangereignis, das ihre Fähigkeit unterstrich, jede musikalische Vorlage zu ihrer eigenen zu machen.
Appear Disappear (2025) Und gerade als man dachte, die Götter seien im Ambient-Himmel angekommen, kehrten sie 2025 mit einem Knall zurück. Das Album „Appear Disappear“, veröffentlicht im Juni 2025, wurde von Kritikern als Rückkehr zu den Wurzeln gefeiert. Die Songs sind wieder härter, aggressiver und erinnern an die Wucht von „L’eau rouge“ oder „T.V. Sky“.
In Interviews sprach Franz Treichler darüber, dass die Songs eine Reaktion auf die Isolation, Kontrolle und die Herausforderungen der modernen Welt sind. Es ist ein politisches, brutales und gleichzeitig wunderschönes Album. The Young Gods sind, auch nach vierzig Jahren im Geschäft, immer noch wütend. Und das ist gut so. Sie sind nicht mehr ganz jung, aber sie sind definitiv immer noch Götter.
Aktuelle Tourdaten 2025 / 2026
Erleben Sie die Legende live. The Young Gods sind auf Tour, um ihr neues Album „Appear Disappear“ vorzustellen.
- 02. November 2025: Portsmouth, Vereinigtes Königreich (Wedgewood Rooms)
- 04. November 2025: Hamburg, Deutschland (MS Stubnitz)
- 05. November 2205: Kopenhagen, Dänemark (Loppen)
- 06. November 2025: Stockholm, Schweden (Slaktkyrkan)
- 15. November 2025: Prag, Tschechien (Palac Akropolis)
- 16. November 2025: Berlin, Deutschland (Frannz Club)
- 17. November 2025: Köln, Deutschland (Club Volta)
- 04. Dezember 2025: Biel, Schweiz (Chessu)
- 05. Dezember 2025: Bern, Schweiz (Dachstock)
- 06. Dezember 2025: Basel, Schweiz (Kaserne) (Ausverkauft)
- 12. Dezember 2025: St. Gallen, Schweiz (Grabenhalle)
- 13. Dezember 2025: Luzern, Schweiz (Schüür)
- 08. März 2026: München, Deutschland (Ampere)
- 10. März 2026: Ljubljana, Slowenien (Kino Siska)
- 11. März 2026: Budapest, Ungarn (A38)
- 12. März 2026: Wien, Österreich (Flucc)
- 19. März 2026: Prag, Tschechien (Palac Akropolis)
Interaktive Diskografie (Studioalben)
Eine Auswahl der wichtigsten Studioveröffentlichungen. Klicken Sie auf den Titel, um den Inhalt anzuzeigen.
The Young Gods (1987)
Das bahnbrechende Debüt. Vom Melody Maker zum Album des Jahres ernannt.
- Nous de la lune
- Jusqu’au bout
- A ciel ouvert
- Jimmy
- Percussionne
- Feu
- Did You Miss Me?
L’eau rouge (1989)
Die düstere, atmosphärische Festigung ihres Sounds. Produziert von Roli Mosimann.
Inhalt: Trackliste nicht öffentlich verfügbar.
Play Kurt Weill (1991)
Eine revolutionäre Neuinterpretation von Kurt Weill und Bertolt Brecht Stücken.
Inhalt: Enthält unter anderem „Seeräuberjenny“ und „Alabama Song“.
T.V. Sky (1992)
Der internationale Durchbruch mit der Single „Skinflowers“, die auf MTV rotierte.
Inhalt: Trackliste nicht öffentlich verfügbar.
Only Heaven (1995)
Das Album auf dem US-Major-Label Interscope. Schwebend und psychedelisch.
Inhalt: Trackliste nicht öffentlich verfügbar.
Second Nature (2000)
Die Neuausrichtung im neuen Jahrtausend, stark von Techno und Elektronik beeinflusst.
Inhalt: Trackliste nicht öffentlich verfügbar.
Super Ready / Fragmenté (2007)
Eine Rückkehr zu einem roheren, gitarren-orientierteren (Sampler-)Sound.
Inhalt: Trackliste nicht öffentlich verfügbar.
Everybody Knows (2010)
Ein vielfältiges Album, das die verschiedenen Stärken der Band bündelte. Wieder mit Roli Mosimann.
Inhalt: Trackliste nicht öffentlich verfügbar.
Data Mirage Tangram (2019)
Das große Comeback-Album mit Gründungsmitglied Cesare Pizzi. Entwickelt in einer Live-Residenz.
Inhalt: Trackliste nicht öffentlich verfügbar.
Play Terry Riley In C (2022)
Die ambitionierte und kraftvolle Interpretation des minimalistischen Klassikers von Terry Riley.
Inhalt: Eine durchgehende Komposition.
Appear Disappear (2025)
Das neuste Werk. Von Kritikern als „zurück zu den Wurzeln“ gefeiert, härter und aggressiver als die Vorgänger.
Inhalt: Trackliste nicht öffentlich verfügbar.
Quellenangaben
Dieser Text wurde auf Basis öffentlich zugänglicher Informationen und journalistischer Artikel verfasst. Alle Inhalte wurden paraphrasiert und stellen keine Zitate dar.
- Wikipedia (Deutsch und Englisch): Artikel „The Young Gods“, „The Young Gods discography“, „Al Comet“, „The Young Gods (album)“.
- SWI swissinfo.ch: Artikel „Gereifte Götter: Im Proberaum der Young Gods“.
- Two Gentlemen (Label): Künstlerbiografie „Franz Treichler“.
- sashawaltz.de (Gastspiel-Info): Künstlertext „The Young Gods“.
- Plattentests.de: Rezension zu „Appear disappear“.
- starzone.ch: Interview „The Young Gods im Interview“.
- a.s.s. concerts & promotion: Künstlerinfo „The Young Gods“.
- younggods.com (Offizielle Webseite): Tourdaten.
- britishrock.cc: Tourdaten.
- Fotoquelle(n): Selbymay, CC BY-SA 4.0 (creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0), via Wikimedia Commons